Reiz des Vergänglichen: Der Jugend-Trend Snapchat
Berlin (dpa) – Ist es der Reiz des Vergänglichen? Mehr als 130 Millionen Menschen weltweit nutzen täglich Snapchat. Vor allem bei vielen Jugendlichen scheint die App, bei der die verschickten Fotos nach Sekunden wieder gelöscht werden, unverzichtbar.
Laut einer Umfrage des Magazins «Bravo» hat Snapchat bei jungen Nutzern inzwischen Facebook hinter sich gelassen. So zählt die Anwendung für 35 Prozent der Befragten zwischen 10 und 19 Jahren zu den drei meistgenutzten Social Media Apps, Facebook kam auf 32 Prozent und landete damit auf Rang fünf. Zum Vergleich: Im Vorjahr lag Snapchat noch bei 17 und Facebook bei 40 Prozent. An der Spitze liegt aktuell WhatsApp (91 Prozent) vor YouTube (56) und Instagram (52 Prozent).
Vielen Erwachsenen bereitet Snapchat nach wie vor Rätsel. So scherzte Blogger und Szene-Star Sascha Lobo in der vergangenen Woche auf der Internetkonferenz re:publica, die digitale Avantgarde erkenne man daran, dass «wir noch viel früher als alle anderen Snapchat nicht verstanden haben». Dass der Wunsch, den Hype endlich zu begreifen, groß ist, zeigte sich Stunden zuvor: Zur Veranstaltung «Snapchat für Erwachsene», bei der der Schüler
Joshua Arntzen die App erklärte, strömten um die 500 Besucher.
«Du kannst die verrücktesten Dinge in deinen Snaps – also Fotos und Videos – machen und keinen interessiert es», erklärte der 14-Jährige mit Blick auf Features, bei denen man Gesichter verzerren oder austauschen kann. Schließlich werde alles wieder gelöscht. Dass die Daten vielleicht nicht endgültig verschwinden, sondern irgenwo gespeichert würden, irritiere den Teenager nicht. Da sei er realistisch: «Ich lebe nun mal im 21. Jahrhundert.» Und sein späterer Arbeitgeber könne darauf nicht zugreifen.
Sind es also Spontanität und Kurzlebigkeit, die
Snapchat auszeichnen? Auf dieses Ergebnis kamen im Herbst 2015 US-Forscher der Universität Michigan. Demnach rufen die dortigen Interaktionen mehr positive Emotionen hervor, als bei anderen Social-Media-Apps. «Snapchat wird typischerweise für die spontane Kommunikation mit engen Freunden verwendet, auf eine neue und meist angenehmere Art», erklärte der Hauptautor der Studie, Joseph Bayer. Nutzer müssten sich weniger Gedanken um ihre Selbstpräsentation machen, etwa ob sie auf einem Foto hässlich wirkten.
Während auf Facebook wichtige Momente wie die Geburt eines Babys geteilt würden, seien es bei Snapchat eher die kleinen Dinge, sagte Bayer. «Wir müssen nicht mehr die «echte Welt» erfassen und online wiedergeben», erklärte Snapchat-Gründer Evan Spiegel 2014 auf einer Konferenz. «Wir leben und kommunizieren einfach zur selben Zeit.»
Der heute 25-Jährige rief Snapchat 2011 gemeinsam mit Robert Murphy in Los Angeles ins Leben. Laut dem Tech-Blog «recode» gibt es inzwischen 130 Millionen Nutzer, 65 Prozent der 18- bis 24-Jährigen in den USA verwenden die App. Die Besonderheit war von Beginn an die sekundenkurze «Lebenszeit» der Fotos. Zwar kann der Empfänger theoretisch ein Screenshot machen, der Absender wird aber darüber informiert – und es ist eine Art ungeschriebenes Gesetz, das nicht zu tun. Teenager nutzten die Anwendung, um Nacktfotos zu verschicken, weshalb sie zunächst den Ruf einer «Sexting»-App hatte.
Facebook erkannte früh das Potential: Bereits 2013 wollte Mark Zuckerberg Snapchat für drei Milliarden Dollar übernehmen, doch das Start-up lehnte ab. Derweil entwickelt sich der kleine Konkurrent immer mehr zum Angstgegner – besonders in dem für Zuckerberg so wichtigem Videobereich. Laut
«Techinsider» konsumieren Snapchat-User derzeit täglich zehn Milliarden Videos. Im enormen Facebook-Kosmos mit derzeit über 1,6 Milliarden Mitgliedern waren es im November 2015 gerade mal acht Milliarden.
Auch Wirtschaft, Medien und Politik erkennen den Hype. Zalando und Starbucks aber auch CNN oder der FC Bayern München sind auf Snapchat vertreten. Das Wahlkampfteam von Hillary Clinton punktete kürzlich mit einer Snapchat-Story über Donald Trump. Und erste Analyse-Tools wie Snaplytics helfen beim Optimieren von Marketing-Aktivitäten.
Und wie geht es weiter mit Snapchat? Im September wird die App fünf Jahre alt, der Börsengang ist Spiegel zufolge geplant. Längst gibt es zahlreiche weitere Features. In dem bei Prominenten beliebten Bereich Stories bleiben veröffentliche Inhalte 24 Stunden sichtbar. Nach einem Update im März können Nutzer nun auch miteinander telefonieren.
Künftig werden sich vielleicht auch immer mehr Erwachsene, die sich derzeit noch mit Twitter oder Instagram vertraut machen, bei Snapchat tummeln. Ob der Hype dann noch da ist, wird sich zeigen. So prophezeite Joshua Arntzen: «In den nächsten ein bis zwei Jahren wird es die nächste App geben und die Leute werden anfangen, umzusteigen.» Wenn sich in fünf Jahren alle fragen würden, warum die Jugend weggehe, «dann sind die ganzen Omas und Opas auf Snapchat.»
Fotocredits: Patrick Seeger
(dpa)