Google baut den allwissenden und allgegenwärtigen Computer
Mountain View – Auf den ersten Blick sind es nur lauter kleine Funktionen, mit denen künstliche Intelligenz das Leben der Nutzer von Google-Diensten leichter machen soll.
Viele Anwender können sich noch gut daran erinnern, wie nervig es ist, die lange Passwort-Zahlenreihe bei einem neuen WLAN-Router einzutippen. Jetzt braucht man den Aufkleber auf dem Gerät nur vor die Handy-Kamera zu halten – und die Software liest den Passcode nicht nur, sondern gibt ihn auch gleich in eine Anmelde-App ein. Das System erkennt auch, wo sich in einem Text relevante Adress-Informationen verstecken. Oder teilt Fotos automatisch mit den Familienmitgliedern, die darauf abgebildet sind.
Woher die Google-Software das weiß? Gesichtserkennung. Genauso wie der Google-Assistent im vernetzten Lautsprecher «Home» die Nutzer in einem Haushalt an der Stimme unterscheiden kann. Sagt man also, «Okay, Google, rufe meine Mutter an», weiß der smarte Lautsprecher ganz genau, wessen Mama hier gemeint ist. Die Vision: Der Google Assistant, diese künstliche Intelligenz, die irgendwo verteilt auf den Servern des Konzerns wohnt, soll überall sein, wo der Mensch ist. Soll für ihn jederzeit ansprechbar sein und jede Frage beantworten können. Auf dem Smartphone, der Armbanduhr, im Auto und in der Küche.
Es ist letztlich der Traum vom Computer aus «Star Trek», der nicht mehr Science Fiction ist, sondern auf einmal greifbar nahe erscheint. Mit der sprechenden Software könnte man schließlich auf ganz natürliche Weise mit einem Computer kommunizieren können. «Es sollte der einfachste Weg sein, etwas zu erledigen», sagte Forschungschef Scott Huffman auf der Entwicklerkonferenz Google I/O. Es sei der Übergang von einer «Mobile-First»-Welt, in der sich alles um das Smartphone drehte, zu einer, in der künstliche Intelligenz den Ton angibt, erklärte Google-Chef Sundar Pichai.
Nicht nur Google ist mit seinem Assistant auf dem Weg dorthin, sondern auch Apple mit Siri, Amazon mit Alexa, Microsoft mit Cortana. Google hofft aber, dass die gewaltige Datenmenge, die sich auch dank der vielen Milliarden Internet-Suchen angesammelt hat, zusammen mit der konsequenten Erfassung allen Wissens und einer gewaltigen Rechenleistung dem Konzern am Ende einen Vorteil vor der Konkurrenz verschaffen werden.
Mit der Kraft der allgegenwärtigen künstlichen Intelligenz macht sich Google auch für den Wettbewerb mit Facebook fit. Wenn die besten Fotos einer Party mit Hilfe von Google-Technologie wie von Geisterhand unter allen Anwesenden ausgetauscht werden, könnte daraus eine attraktive Alternative zu Facebook-Diensten wie Instagram oder WhatsApp entstehen. Und mit rund 500 Millionen aktiven Nutzern von Google Photos spielt der Suchmaschinen-Gigant ohnehin in einer Liga mit Instagram & Co.
Datenschützer werden dieses Zukunftsszenario eher fürchten, denn der ungewollte Austausch sensibler Informationen ist nur einen Klick entfernt. Der Trend scheint aber unaufhaltsam: Am Ende verschmelzen die vielen kleinen Funktionen und Datenschnipsel zu einerm allwissenden Computer. Er weiß, wo man sich gerade aufhält – nicht unbedingt nur dank der GPS-Ortung, sondern vielleicht auch weil er die Umgebung am Kamerabild erkennt. Er weiß wahrscheinlich, was man als nächstes vorhat (Terminkalender). Das System könnte empfehlen, dass man vorher etwas essen sollte.
Es ist als hätte man einen unsichtbaren Butler, der einem immer über die Schulter schaut. Man kann darin aber auch einen Aufpasser sehen. Wird der Komfort die Ängste um die eigene Privatsphäre verdrängen? Denn schließlich kann ein Assistent einem nur wirklich dienlich sein, wenn man für ihn ein offenes Buch ist.
Die Entscheidung, die notwendigen Daten freiwillig herzugeben, wird nicht gerade dadurch erleichtert, dass diese Vision von einer Firma stammt, die nach wie vor den Großteil ihres Geldes mit Internet-Werbung verdient. Die Finanzierung für die ganzen aufsehenerregenden Technologie-Vorstöße wie selbstfahrende Autos, Ballons zur Internet-Versorgung oder die Forschung an Kontaktlinsen, die den Blutzucker messen, kommt vor allem aus den Cent-Beträgen, die zu Milliarden anwachsen, wenn Nutzer auf die kleinen Anzeigen in ihren Suchergebnissen klicken.
Der Fokus auf allgegenwärtige künstliche Intelligenz geht auf der aktuellen Google-Entwicklerkonferenz mit einer neuen Bodenständigkeit bei den hochtrabenden Technologie-Wetten einher. Den Internet-Ballon Loon oder das selbstfahrende Auto vom vergangenen Jahr sucht man auf dem sonnendurchfluteten Konferenzgelände diesmal vergeblich. Stattdessen gibt es ganz viele Zelte für Software-Entwickler, wo ihnen die konkreten Neuerungen schmackhaft gemacht werden sollen.
Bezeichnend ist auch, dass die Informationen zur neuen Version des weltweit meistgenutzten Smartphone-Systems Android fast schon beiläufig am Ende der Eröffnungskeynote zusammengepresst wurden. Früher wäre das der Mittelpunkt einer Google I/O gewesen. Aber künftig soll das Smartphone genauso wie andere Geräte nur noch das Portal zwischen Mensch und künstlicher Intelligenz sein.
Ankündigungen der Google I/O auf einen Blick
– KÜNSTLICHE INTELLIGENZ soll künftig im Mittelpunkt aller Google-Dienste stehen und den Nutzern das Leben leichter machen. So kann zum Beispiel das neue Angebot «Google Lens» Objekte vor der Smartphone-Kamera erkennen – egal, ob es sich um eine Pflanze oder ein Gebäude handelt. Für Kurzmitteilungen gibt es eine Echtzeit-Übersetzung in andere Sprachen. Der Google-Assistent im Lautsprecher «Home» erkennt Nutzer an der Stimme und sucht für die Person passende Informationen heraus.
– DER GOOGLE-ASSISTENT kommt als eigenständige App auf das iPhone. Damit fordert Google Apples Assistenz-Software Siri direkt auf der heimischen Plattform heraus.
– EINE VOLLWERTIGE VR-BRILLE wird es jetzt auch von Google geben. Anfangs setzte der Internet-Konzern voll darauf eine die einfachere Lösung, ein Smartphone in ein Gehäuse mit Linse zu stecken. Jetzt wird gemeinsam mit Lenovo und HTC ein technisch anspruchsvolleres Modell mit eigenem Bildschirm entwickelt. Das System wird nicht so leistungsfähig wie eine Oculus-Brille von Facebook sein, benötigt dafür aber auch keinen teuren PC.
– «ERWEITERTE REALITÄT» wird zum Beispiel helfen, das richtige Regal im Supermarkt zu finden – und zwar indem die Marschrichtung in das Kamerabild auf de Smartphone-Display eingeblendet wird.
– ANDROID O bekommt als diesjährige Version des meistbenutzten Smartphone-Betriebssystems unter anderem ausgeklügeltere Benachrichtigungen und einen Bild-in-Bild-Modus, wie man ihm vom Fernseher kennt.
– ANDROID IM AUTO hat Zukunft. Audi und Volvo zeigen erstmals Fahrzeuge, bei denen das Infotainment-System mit Googles Mobil-System läuft.
Fotocredits: Eric Risberg
(dpa)